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Macht und Herrschaft – vom Mittelalter bis heute

Grischa Vercamer forscht als neuer Heisenberg-Professor an der Universität Passau zur Darstellung der Fürsten im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit in Chroniken. Im Interview erklärt er, was ihn daran fasziniert und warum wir gut daran tun, Geschichte zu kennen und zu erinnern.

Sichtbare Spuren des Mittelalters in Passau: Eingang zur Hauptburg der Veste Oberhaus. Fotos: Universität Passau

Der Mediävist Prof. Dr. Grischa Vercamer ist neuer Heisenberg-Professor an der Universität Passau für Geschichte der ost- und mitteleuropäischen Kulturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Den Großteil seiner wissenschaftlichen Karriere hat er in europäischen Hauptstädten verbracht, und zwar in Berlin, Edinburgh, Prag und Warschau. Auch Passau ist ihm bekannt: Von 2018 bis 2020 vertrat er den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte.

Prof. Dr. Grischa Vercamer

forscht zu Fürsten im Spätmittelalter in Ost- und Mitteleuropa

Welches Herrschaftsbild von Fürsten transportiert die mittelalterliche Geschichtsschreibung?

Welches Herrschaftsbild von Fürsten transportiert die mittelalterliche Geschichtsschreibung?

Prof. Dr. Grischa Vercamer ist seit Januar 2025 Heisenberg-Professor für Geschichte der ost- und mitteleuropäischen Kulturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Im Rahmen der renommierten DFG-Förderung erforscht er einerseits die Darstellung des spätmittelalterlichen Fürsten in historiographischen Werken im böhmischen, österreichischen und süddeutschen Raum auf militärische und religiöse Kontexte. Andererseits untersucht er den Niederadel auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs. Davor war er unter anderem Vertretungsprofessor an der TU Chemnitz und an der Universität Passau. Er promovierte an der FU Berlin und habilitierte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder in mittelalterlicher Geschichte.

Was fasziniert Sie am Mittelalter?

Neben meinen konkreten Forschungen, die mich natürlich an- und umtreiben, ist es auch die Aktualität des Mittelalters für die Gegenwart, die wir beispielsweise in der Faszination vieler Menschen für die damalige Architektur erfassen können, wie für die Veste Oberhaus in Passau, die steinerne Brücke in Regensburg aus dem 12. Jahrhundert oder den vielen romanischen und gotischen Kirchen und Burgen in Europa. Im 11./12. Jahrhundert bildete sich zudem eine kommunale Selbstverwaltung heraus, die unsere Städte bis heute prägt, obgleich das vielen Menschen nicht bewusst ist. Das lübische und magdeburgische Stadtrecht etwa strahlte bis weit nach Osteuropa aus. Auch Städte wie Kiew oder Lemberg in der Ukraine haben diese Rechte rezipiert und für sich modifiziert. Spuren des Mittelalters finden sich ebenfalls in den Märchenklassikern der Gebrüder Grimm, die man teils schon im 12. /13. Jahrhundert kannte, oder in den Legenden wie dem Nibelungenlied (eng mit Passau verbunden), die auch heute noch Kinofilme oder Streaming-Serien inspirieren. Es handelt sich alles in allem um eine lange Epoche (500-1500) der europäischen Geschichte, deren Alterität zur Jetzt-Zeit uns zwar klar entgegentritt: Andere Riten, Gewohnheiten, Etiketten, kurz: Spielregeln. Und dennoch – allein, weil diese Geschichte genau in Europa, in Deutschland, in Passau nachweislich stattgefunden hat – befinden wir uns in einer gewissen Tradition zu dieser. Das ist faszinierend!

Warum ist Passau ein guter Ort, um die Darstellung der Herrschaft der Fürsten im Spätmittelalter zu erforschen?

Die mächtigen Passauer Bischöfe wirkten bereits seit dem Frühmittelalter und schauten besonders in Richtung Österreich und Ungarn – auch ich habe ja Ostmitteleuropa im Forschungsprogramm. Ungarn wurde im 11. Jahrhundert christianisiert, König Stephan von Ungarn ließ sich taufen. Seine Witwe Gisela kam nach dessen Tod nach Passau zurück, wurde Äbtissin des Klosters Niedernburg und liegt hier begraben. Im 13. Jahrhundert wird die Macht des Passauer Bischofs nochmals erheblich ausgeweitet: Ulrich II. bekam von Friedrich II. ein Fahnenlehen übergeben und wurde somit zum Fürstbischof ­– die Stadt im Spätmittelalter erheblich ausgebaut. Passau hatte leider das Pech, dass ein großflächiger Brand im 17. Jahrhundert das mittelalterliche Stadtbild zerstörte. Deshalb haben wir heute ein barock geprägtes Stadtbild, aber im Kern (und das ist auch gut sichtbar, wenn wir uns die Veste, die Höllgasse oder etwa den Schaiblingsturm anschauen) ist Passau eben eine mittelalterliche Stadt. Und vor allem liegt Passau in einer reichen, mittelalterlich geprägten Geschichtslandschaft, der Schnittstelle habsburgischer und wittelsbachischer Herrschaft, was für meine Forschung sehr attraktiv ist. An der Universität finde ich zudem gleichgesinnte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor – zu nennen sind hier etwa Prof. Dr. Britta Kägler, Prof. Dr.  Andrea Sieber, Prof. Dr. Thomas Kohl als Mediävisten-Kollegen, Prof. Dr. Thomas Wünsch, der ebenfalls zu Ostmitteleuropa arbeitet, oder Prof. Dr. Christian Handschuh in der Kirchengeschichte. Da sind sehr gute Voraussetzungen, auf denen man beispielsweise ein wissenschaftliches Zentrum zur vormodernen Geschichte aufbauen könnte, wie es andere Universitäten bereits haben.

Im Kern mittelalterlich: die Höllgasse in der Passauer Altstadt. 

Was wollen Sie im Rahmen Ihrer Heisenberg-Förderung untersuchen?

Mein eines Heisenberg-Projekt und die Sachbeihilfe sind im Grunde eine Fortsetzung meiner Habilitationsforschung, welche ich zur allgemeinen Herrschaftsdarstellung in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung in Polen, dem Heiligen Römischen Reich und England unternommen habe. In Passau möchte ich nun das 14.-16. Jahrhundert in den Blick nehmen, werde die Fragestellung auf den fromm-religiösen sowie den kriegerischen Fürsten einengen und natürlich den Forschungsraum (Bayern, Böhmen, Österreich) verändern. Ich hatte festgestellt, dass im 12. und 13. Jahrhundert langsam eine gewisse prä-nationale Schreibtradition aufkam, die sich dann wie ein roter Faden teils bis in unsere Zeit zieht. Die Historiographen haben damals recht ungeniert und ohne Nennung ihrer Quellen voneinander abgeschrieben – ein ausgeprägtes Verständnis von geistigem Eigentum und Copyright bestand noch nicht. So aber entstand eine Geschichtstradition, eine gewisse Darstellung der Geschichte – für ein Land oder auch eine Region. Die Geschichtsschreiber mussten sich überlegen, wie will ich einen Fürstbischof darstellen, wie einen Herzog von Bayern? Will ich diesen besonders kriegerisch schildern? Oder schildere ich ihn im Privaten, mit seinen frommen, religiösen Zügen? Will ich ihn zeigen als Richter? Nehmen wir ein Beispiel aus England, der allseits bekannte Richard Löwenherz. Während er Ende des 12. Jahrhunderts auf seinem Kreuzzug war, wurde er als fantastischer Ritter und Krieger, als großer Feldherr dargestellt. Als er dann nach England zurückkam, wird im krassen Gegensatz dazu davon erzählt, wie er über seinen die Macht usurpierenden Bruder, Johann Ohneland, zu Gericht saß und eben nicht militärisch gegen ihn vorging, weil man in England offenbar schon im 12./13. Jahrhundert davon überzeugt war, dass man derartige Konflikte gerichtlich klären müsse.

Heisenberg-Professur: Blick hinter die Kulissen der vormodernen Geschichtsschreibung zu Fürsten im Spätmittelalter

Heisenberg-Professur: Blick hinter die Kulissen der vormodernen Geschichtsschreibung zu Fürsten im Spätmittelalter

Prof. Dr. Grischa Vercamer ist neuer Heisenberg-Professor an der Universität Passau für Geschichte der ost- und mitteleuropäischen Kulturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. In seiner Forschung hat er sich zum Ziel gesetzt, das Verständnis der Darstellung der Herrschaft von Fürsten im Spätmittelalter zu erweitern.

Eine andere Anekdote kommt aus Polen, wo ein polnischer Fürst, Kasimir der Gerechte, mit einem polnischen Adeligen im 12. Jahrhundert würfelte, also Glücksspiel betrieb, was eigentlich von der Kirche verboten war. Der Fürst gewann und der Adelige verlor seinen gesamten Besitz, woraufhin er in Rage aufsprang und Kasimir schlug. Jeder der Anwesenden erwartete, dass der Fürst das Todesurteil über den Adeligen sprechen würde. Doch der Chronik zufolge sagte der Fürst ganz im Gegenteil, dass der Adelige richtig gehandelt habe. Er, der Fürst, sei ja schon reich und mächtig und habe somit einen Fehler gemacht, dem Adeligen seinen ganzen Besitz zu nehmen. Durch die Ohrfeige habe der Fürst seinen Fehler erkannt (auch das Glücksspiel an sich als Fehler) und der Adelige habe ihn so zu einem besseren Herrscher gemacht. Solche Anekdoten findet man wiederum im Heiligen Römischen Reich nicht. Jemand wie Friedrich Barbarossa wird als relativ unfehlbar in den für ihn relevanten Chroniken dargestellt. Eine sehr wichtige Sache fiel mir bei dem vielen Lesen der Chroniken immer wieder auf, und damit sind wir bei meiner Heisenberg-Forschung in Passau: Die Religion gilt in der Forschung für die Herrschaft im Mittelalter einhellig als omnipräsent, zudem hatten viele Chronisten einen geistlichen Hintergrund. Man würde also meinen, dass in ihren Beschreibungen des Herrschers religiöse Handlungen eine große Rolle spielen, etwa zu Krönungsanlässen oder zu Begräbnissen. Aber das kommt gar nicht so stark zum Tragen! Dieser Befund hat mich sehr verwundert und dem möchte ich nun in Passau weiter nachgehen – mir scheint, hier kann die Forschung zur mittelalterlichen Historiographie (als Quellengruppe sehr zentral für die Mediävistik) erheblich voran kommen.

Blick auf die Burgruine im Passauer Stadtteil Hals, dem ehemaligen Sitz der Grafen von Hals. 

Warum ist die Grafschaft Hals, die namensgebend für den Passauer Stadtteil Hals war, für Ihre Forschung interessant?

Sie sprechen damit auf lokaler Ebene die zweite Säule meiner Heisenberg-Forschung in Passau an: Der spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Niederadel im Heiligen Römischen Reich. Die Grafschaft Hals, die ihrerseits natürlich zum Hochadel gehörte, wurde im 13. Jahrhundert sogar reichsunmittelbar. Sie war somit nicht der Herrschaft der damaligen Territorialherren (Wittelsbacher, Passauer Bischöfe) unterworfen und hatte zudem eine Stimme auf den Reichstagen im Spätmittelalter. Damit gehörte sie zu einer recht kleinen Gruppe –  wir rechnen im Hoch- und Spätmittelalter mit etwa 120 reichsunmittelbaren Fürsten, dazu noch eine überschaubare Zahl in den jeweiligen Regionen an nichtfürstlichen Hochadeligen. Reichsunmittelbar wurden die Grafen von Hals im Übrigen durch Rudolf von Habsburg, den ersten römisch-deutschen König aus dem Geschlecht der Habsburger, der nach der langen Phase des Interregnums (1250-1273) gegen die mächtigen Territorialherrscher Unterstützung von ‚unten‘ brauchte, die ihn vor Ort unterstützten. Hier kommt auch der Niederadel ins Spiel. Dieser macht im Spätmittelalter mit Abstand den Großteil des Adels aus, etwa 1,5 bis zwei Prozent der Bevölkerung, im deutschen Teil des Heiligen Römischen Reichs läuft das auf ungefähr 200.000 Menschen raus. Diese saßen auf kleineren Burgen auf dem Land und hatten nur eine lokale Reichweite (den Grafen von Hals in der Anfangsphase nicht unähnlich). Sie fingen im Spätmittelalter an, sich zunehmend untereinander zu vernetzen, über Schwurgemeinschaften, Einungen beispielsweise oder über Ritterturniere. So kam langsam ein Bewusstsein der eigenen Identität auf. Gerade zum Ende des Spätmittelalters kamen dann große Herausforderungen auf diese elitäre Schicht im gesamten deutschsprachigen Raum zu. Man befand sich in einer Transformationszeit, ein Begriff, der heute besonders für moderne Veränderungen genutzt wird, aber auch für die damalige Zeit passend erscheint. Der Niederadel musste sich schleunigst neu ‚erfinden‘, um nicht auf seinen Burgen zu verarmen. Es fanden immer mehr Interaktionen mit den Städten statt (adelige Stadthöfe, schichtenübergreifendes Heiratsverhalten usw.), es begann eine Tendenz, sich als studierter Experte an den Fürstenhöfen anzudienen, als Jurist, manchmal auch als Arzt. Niederadelige mussten sich dazu aus ihren Burgen herausbegeben, neue (Über)Lebensstrategien finden – sie studierten, reüssierten als Militärexperten und Söldnerführer, förderten teils auch bewusst die religiösen Reformationsbewegungen in ihrem Einflussbereich. Sich diesen Prozess anhand einer zwar elitären, aber nicht der höchsten Adelsgruppe näher anzuschauen, finde ich sehr interessant – zumal es in Deutschland viele wertvolle lokale Einzelstudien zur Thematik gibt, ohne dass bisher jedoch eine größere Synthese vorliegt. Diese möchte ich in der Heisenberg-Zeit schreiben. Und dafür ist mein neuer Lehrstuhl, der ja ganz bewusst eine Brückenfunktion zwischen Spätmittelalter und Frühen Neuzeit darstellt, prädestiniert.

Von dem, was Fox News heute in den USA macht, lässt sich durchaus eine rote Linie bis zu den mittelalterlichen Autoren ziehen, die natürlich eine gewisse causa scribendi verfolgten, also einen Grund zum Schreiben.

Prof. Dr. Grischa Vercamer im Gespräch.

Welche Parallelen sehen Sie zur heutigen Zeit?

Was die Historiographen der damaligen Zeit schon sehr klar betrieben, ist das intentionale Schreiben, oder, um es überspitzt mit einem Begriff der heutigen Zeit auszudrücken, das Schaffen von Fake News. Allein dadurch, dass man bestimmte Bereiche überbeleuchtete und andere Bereiche eventuell einfach beiseiteließ (da musste man gar nicht unbedingt lügen), entwarf man ja ein bestimmtes Bild von einem Herrscher, welches eben gewollt war. Von dem, was beispielsweise Fox News heute in den USA macht, lässt sich durchaus eine rote Linie bis zu den mittelalterlichen Autoren ziehen, die natürlich eine gewisse causa scribendi verfolgten, also einen Grund zum Schreiben hatten. Oftmals verbargen sich dahinter Karriereambitionen, manchmal aber auch Ängste, nicht anzuecken – der unseren Zeit also nicht ganz unähnlich. In jedem Falle kann man von dem "Besteck" der damaligen Schreiber – also auch die Art, bestimmte Narrationen zu inszenieren, sicherlich für die heutige Zeit lernen.

In den USA ist die Rede von der "Broligarchie", der Herrschaft der reichen Männer. Gab es solche Strukturen schon im Mittelalter?

Wir erleben im Augenblick, dass oligarchische Strukturen, die man lange Zeit mit dem Russland der postsowjetischen Phase verbunden hat, auch in den USA zu einem gegenseitigen Befruchtungs- und Verflechtungssystem zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht führen. Man sieht es an den großen Tech-Unternehmen, wie sich da ein Elon Musk andient und über seine Geldmacht und seine Unternehmen Wahrheit nach seinem Gusto gestaltet und so den nun präsidialen ‚Dealmaker‘ Trump ganz offensichtlich abstützt, aber eben auch profitiert. Auch die mittelalterlichen Kaiser und Könige waren auf große damalige Wirtschaftshäuser angewiesen. Dazu zählten etwa die Fugger, ein altes Augsburger Handelshaus, oder etwa die reichen Nürnberger Kaufleute. Sie verliehen Geld und bekamen dafür Privilegien. Ein heftiges Beispiel liefert die Zeit der Schwarzen Pest im 14. Jahrhundert, in deren Zuge schätzungsweise ein Drittel der europäischen Bevölkerung starb. Für das Sterben machte man gerne auch mal die Juden verantwortlich (Brunnenvergiftung etc.), auch wenn die meisten oberen Schichten sehr wohl wussten, dass das Unfug war. Meist ging der Judenhass  sowieso sehr utilitaristisch von Menschen und städtischen Schichten aus, die vor allem ihre Schulden loswerden wollten oder den Gewinn suchten. Die Nürnberger Kaufmannschaft reiste im November 1349 zu Karl IV. nach Prag und holte sich dort quasi einen Persilschein (Straffreiheit) für ein wenig später erfolgtes Pogrom ab – sie wollten das jüdische Viertel, welches sehr zentral in Nürnberg lag, das Areal des heutigen Hauptmarkts in der Nürnberger Innenstadt, neubebauen, dafür musste es natürlich weg. Eine win-win-Situation – Karl IV. bekam dafür viel Geld, das Viertel wurde dem Erdboden gleichgemacht, Hunderte Juden ermordet. Dieses im Übrigen wider besseres Wissen: Karl IV. und die Nürnberger Patrizier wussten ganz genau, dass die Juden nicht an der Pest schuld waren – Karl hatte die Juden zudem als König eigentlich zu schützen. Es war beiden Seiten egal, gültige Rechtsstandards wurden gebeugt und man erfand fadenscheinige Argumente.

Reiche Unternehmer – darin unterscheidet sich das Mittelalter sicherlich nicht von der heutigen Zeit – suchten schon immer nach politischer Einflussnahme und hatten und haben dabei als Priorität Gewinnmaximierung vor den Augen. Es stand den politischen Führungsschichten eines Landes schon immer gut an, dieses einzuhegen und gerade nicht zu enthemmen (was wir vielerorts heute sehen).

So zeigt sich gut die Macht der damaligen Oligarchen, auch wenn man den Begriff in der mediävistischen Forschung kaum gebraucht. Es war eine Geldwirtschaft, die zunehmend von zentralen Familien ausging und von der die großen Fürsten letztlich abhängig waren, wenn sie ihre aufwendige Hofhaltung oder ihre Kriegszüge finanzieren wollten. Die Juden, ihrerseits zwar teilweise wohlhabende Geldverleiher (oftmals aber auch einfache Handwerker), hatten im Gegenzug niemals die Macht und das Standing, welches christliche Kaufleute hatten. Aufgrund ihrer Religion handelte es sich bei ihnen seit spätestens dem 11. Jahrhundert (als die ersten städtischen Pogrome im Rahmen der Kreuzzugsbewegung aufkamen) um eine hochgefährdete Gruppe, die sehr schnell marginalisiert werden konnte. Reiche Unternehmer – darin unterscheidet sich das Mittelalter sicherlich nicht von der heutigen Zeit – suchten schon immer nach politischer Einflussnahme und hatten und haben dabei als Priorität Gewinnmaximierung vor den Augen. Es stand den politischen Führungsschichten eines Landes schon immer gut an, dieses einzuhegen und gerade nicht zu enthemmen (was wir vielerorts heute sehen). Ohne das Mittelalter dabei allzu sehr zu romantisieren, muss man – vielleicht gerade im Gegensatz zu der momentanen Tendenz – jedoch konstatieren, dass die wichtige politische Macht damals immer vom traditionsbewussten Adel ausging, welcher auf den schnöden Mammon und das allzu offene Streben nach Profit (auch wenn notwendig) oftmals herabblickte und schon bestimmte Normen und Werte verfolgten. Daher kommt schließlich auch das Sprichwort "Noblesse oblige", "Adel verpflichtet".

Wiederholt sich Geschichte?

Zu Weihnachten hat mir meine Frau eine polnische Tasse geschenkt mit der Aufschrift: ‚Wie oft soll ich mich wiederholen? – Geschichte.‘ (Ile razy mam się powtarzać — Historia). Diese mag ich sehr, auch den Spruch, finde ihn aber vielleicht etwas zu apodiktisch, da sich die Geschichte nicht eins zu eins wiederholt. Momentan gibt es viele Menschen, die darauf hinweisen, dass wir eigentlich gerade eine Weimarer Zeit 2.0 erleben. Zu den ganz zentralen Aufgaben der Geschichtswissenschaften in einer Demokratie gehört es, der Gesellschaft mahnend ähnliche Strukturen der Vergangenheit aufzuzeigen, wenn sich eine Gefahr für die Demokratie ergibt. Jedoch: Die strukturellen Bedingungen waren vor hundert Jahren eben doch ganz andere – angefangen mit dem Alter und dem Selbstverständnis der damals sehr jungen Demokratie. Und dennoch stimmt: Wir tun gut daran, uns gerade die langsamen Zersetzungsprozesse der Weimarer Republik vor Augen zu führen – die politischen und gesellschaftlichen Mechanismen in solchen Situationen sind sich nämlich doch sehr ähnlich.  Eine weitere Form, wo Geschichte sich vermeintlich wiederholt, wir aber vorsichtig sein müssen, ist bei Identitätsfragen – traditionell diente die Geschichtswissenschaft gerne zur Identifikation mit der ‚großen‘ Vergangenheit einer Nation. Sie kann und soll natürlich (regionale) Identitäten durch Tradition und eben historische Kontextualisierung stärken. Dabei muss man jedoch aufpassen, dass diese Identifikation nicht allzu (national) exklusiv wirkt. Man kann in Deutschland von Friedrich Barbarossa, in Ungarn von Stephan I. und in Polen von Bolesław dem Tapferen fasziniert sein, sich der Geschichte der damaligen Herrschaften widmen, deren Untertanen auch heute noch gleiche Namen tragen (eben Deutsche, Ungarn, Polen) – und doch sollte man gerade in einem modernen Staatenverbund wie Europa nicht der Illusion erliegen, dass man sich heutzutage in einer Linie mit den genannten Herrschern befindet und sich so eventuell über die nationalen Nachbarn erheben kann. Um es auf die Spitze zu treiben: Der vor tausend Jahren lebende Wladimir I. aus der Kiewer Rus‘ hat doch sehr wenig mit Wladimir Putin zu tun. Auch hier wird gerne die Wiederholung der Geschichte nach dem Motto bemüht: Ein früheres Großreich muss doch auch heutzutage ein Recht auf imperiale Ansprüche haben. Insofern tun wir gut daran, die Geschichte zu kennen und zudem zu erkennen, dass sie anderswo anders erinnert wird (schon alleine aus diesem Grund kann sie sich nicht 1:1 wiederholen), und dies für die Gegenwart mitzunehmen und daraus zu lernen.

Bluesky

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