Skyline von der Millionenstadt Taipeh. Foto: Colourbox
Als Professor für Straf- und Strafprozessrecht lehrt und forscht Prof. Dr. Chih-Jen Hsueh seit 2013 am College of Law an der National Taiwan University in Taipeh. 2010 promovierte er an der Universität Tübingen. Die Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit liegen in den verfassungs- und menschenrechtlichen Fragen des Straf- und Strafverfahrenrechts. Während seines Aufenhalts in Passau im Juli und August 2024 forscht er am Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht von Prof. Dr. Robert Esser.

Prof. Dr. Robert Esser von der Universität Passau mit seinem taiwanesischen Gast Prof. Dr. Chih-Jen Hsueh. Foto: Lena Nerb
Was hat Sie motiviert, den weiten Weg von Taipeh nach Passau auf sich zu nehmen?
Mein erster Besuch in Passau fand vor einem Jahr, im Juli 2023, aus Anlass des 8. Deutsch-Taiwanesischen Strafrechtsforums statt. Die Altstadt war so bunt und attraktiv, dass ich beschloss, Passau ein zweites Mal zu besuchen. Auch durch die Unterstützung der Forschungsstelle Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP) kann ich nun in Passau einen Forschungsaufenhalt durchführen.
Mein Gastgeber, Prof. Dr. Esser, und ich haben über das uns verbindende Strafrechtsforum eine enge wissenschaftliche Kooperation aufgebaut. Wir beide beschäftigen uns intensiv mit der Regulierung des Verbots der Tatprovokation und des Einsatzes von V-Personen im Strafverfahren. Die Umsetzung rechtsstaatlicher Vorgaben, formuliert durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, und die jeweilige rechtspolitische Perspektive auf das Thema in beiden Ländern beschäftigen mich im Rahmen meines Forschungsprojektes an der Universität Passau.
Worum geht es in Ihrem Forschungsprojekt an der Universität Passau? Was erhoffen Sie sich von Ihrem Aufenthalt hier?
Ich habe mir die Frage gestellt, ob der Gesetzgeber in Taiwan die Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme im Strafprozess regulieren muss. In Taiwan wird die Tatprovokation von der Polizei vor allem dort eingesetzt, wo die Nachweise für eine Tatbegehung schwer mit typischen und offenen Ermittlungsmaßnahmen zu erbringen sind. Die häufigste Erscheinungsform der Tatprovokation ist der Scheinkauf von Betäubungsmitteln auf der Straße oder von Nashornpulver in den Apotheken der traditionellen chinesischen Medizin. Die Zulässigkeit der Tatprovokation ist bisher gesetzlich offengeblieben, ihre Grenzen werden nur von der Rechtsprechung bestimmt. Ich persönlich halte diese Rechtslage für verfassungsrechtlich problematisch, weil ein tatprovozierendes Verhalten nicht unwesentlich in die Grundrechte des Betroffenen eingreift. Die Regulierung der Voraussetzungen und Grenzen der Tatprovokation durch den Gesetzgeber ist somit rechtsstaatlich geboten.
Die deutsche Bundesregierung hat im März 2024 einen Gesetzesentwurf ins Parlament eingebracht, mit dessen Hilfe der Einsatz von V-Personen und die rechtlichen Grenzen der Tatprovokation festgelegt werden sollen. Ich möchte mich gerne von dieser aktuellen Rechtsentwicklung und der rechtspolitischen Diskussion in Deutschland inspirieren lassen, um im Anschluss mein eigenes Regulierungskonzept für die taiwanesische Strafprozessordnung zu entwickeln.
Wer wird im politischen System Taiwans als Vertrauensperson eingesetzt? Zu welchen Zwecken? Wie ist dies derzeit gesetzlich geregelt?
Der Begriff V-Person wird in der Strafprozessordnung Taiwans nicht geregelt. Demgegenüber ist der (präventive) Einsatz von V-Personen im Polizeibefugnisgesetz ausdrücklich normiert. Wenn zu befürchten ist, dass jemand die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung, Leib, Leben, Freiheit, Ehre oder Eigentum einer anderen Person verletzt oder eine andere Straftat begeht, darf der Polizeipräsident zum Zweck der Gefahrabwehr oder der Straftatverhütung eine private Person als V-Person einsetzen. Diese Regelung kann aber nicht im Bereich der repressiven Strafverfolgung zur Anwendung kommen. Zur Frage, wer als V-Person eingesetzt werden darf, fehlt es an genauen Vorgaben im Polizeibefugnisgesetz. Auch sind offizielle Berichte aus der Polizeipraxis hierzu nicht verfügbar. Man kann daher nur vermuten, dass die als V-Personen ausgewählten privaten Personen im Regelfall zu einer kriminellen Organisation gehören oder im kriminellen Mileau, z.B. in der Drogenszene, tätig werden.
Warum ist die momentane Diskussion um den Gesetzesentwurf in Deutschland für Taiwan relevant?
Zum einen bildet der Gesetzesentwurf in Deutschland ein mögliches Beispiel für eine gesetzliche Regelung im Bereich der V-Personen und der Tatprovokation, zum anderen spielt das deutsche Recht traditionell eine sehr bedeutende Rolle für die Entwicklung des taiwanesischen Rechtssystems. Dies hat einen historischen Grund. Das taiwanesische Strafgesetzbuch und die taiwanesische Strafprozessordnung traten vor über hundert Jahren in Kraft. Der Berater für die Strafgesetzgebung, Prof. Okada Asataro, hatte die Gesetzesentwürfe nach dem Vorbild des deutschen Rechts verfasst. Von daher orientiert sich die Entwicklung im Straf- und Strafprozessrecht in Taiwan stark an der deutschen Strafgesetzgebung und den Initiativen der deutschen Strafrechtswissenschaft. Aus diesem Grund werden die aktuellen Bemühungen um die Regulierung des Einsatzes von V-Personen und der Tatprovokation in Deutschland auch in Taiwan sehr genau verfolgt.
Haben Sie einen Lieblingsort, den Sie nach Ihrer Abreise vermissen werden?
Campus der Universität Passau am Inn. Links im Bild zu sehen ist das Nikolakloster, in dem sich auch die Forschungsstelle von Prof. Dr. Esser befindet.
Ich habe mehrere Lieblingsorte in Passau, die ich nach meiner Abreise vermissen werde. Da ist zum einen der Donauerradweg, auf dem ich viele Spaziergänge zur Entspannung machen konnte, zum anderen das Passauer Erlebnisbad (peb), wo ich den heißen Passauer Sommer mit viel Badespaß genossen habe. Und schließlich mein Büro am Lehrstuhl und der Forschungsstelle im Nikolakloster, wo ich ruhig und konzentriert arbeiten konnte.
Prof. Dr. Robert Esser
Welche Anforderungen stellen die Menschenrechte an ein rechtsstaatliches Strafverfahren, welchen Grenzen unterliegt eine "effektive" Strafverfolgung?
Welche Anforderungen stellen die Menschenrechte an ein rechtsstaatliches Strafverfahren, welchen Grenzen unterliegt eine "effektive" Strafverfolgung?
Prof. Dr. Robert Esser ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht. Er leitet seit 2010 die dem Lehrstuhl angegliederte Forschungsstelle Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP). Ein besonderer Schwerpunkt seiner Arbeit liegt neben der universitären Grundlagenforschung und der Fortbildung von Justiz und Anwaltschaft zu konkreten Fragen des Menschenrechtsschutzes in der internationalen Politikberatung, namentlich in Ost- und Südostasien (China, Japan, Nepal, Taiwan, Vietnam).